Chimären. Seekatzen, Seeratten - einem griechischen Mythos entsprungen?

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17.05.2013 09:12
Kategorie: Biologie

Seekatze, Seeratte, Schimäre, Spöke, Geisterhai, Elefantenfisch und noch so mancher Name mehr. Eines ist klar: Wenn Fischer so einen eigenartigen Fisch aus dem Wasser zogen, wussten sie meist nicht, was sie da gefangen hatten. Denn Chimären sehen ganz ungewöhnlich aus.

Bericht von Harald Mathä und Sven Gust

"Chimäre" entstammt der altgriechischen Mythologie und leitet sich vom griechischen Wort für "Ziege" ab. Die Eltern der ersten Chimäre waren die Ungeheuer Echidna und Typhon, wer die kennt muss schon sehr griechophil sein oder etwas in diese Richtung studiert haben. Ihre Geschwister Hydra und Sphinx kennt man schon eher. Cerberus und Orthos schafften es aber nicht zu größerer Popularität.

Das Ungeheuer lebte in Chimaira in Lykien (heute Südtürkei), wo es Menschen und Tiere tyrannisierte. Der antike Bestsellerautor Homer beschrieb die Chimäre in seiner Ilias als bösartiges, dreiköpfiges, feuerspeiendes Monster und als eine Mischung aus Ziege, Löwe, Schlange und Drache. Er hatte wohl eine dieser Schwiegermütter... In seinen, ihm an dieser Stelle suggerierten, Rachegelüsten gegen ebendiese, gab er seinem Helden Bellerophon, der bezeichnenderweise Enkel des Sisyphos war, den Auftrag das Monster zu vernichten. Der uns Tauchern wohlbekannte und hochgeschätzte Meeresgott Poseidon stellte ihm dafür das geflügelte Pferd Pegasus zur Verfügung. Auch dieses Halbwesen kennt man vom Logo von Paketdiensten, Fluglinien, Sportschuhen, etc. Aber das Kräftegleichgewicht war dadurch nur scheinbar hergestellt. Der Kampf währte lang und der erschöpfte griechische Held konnte die feuerspeiende Chimäre erst töten, indem er ihm einen Klumpen Blei ins Maul stopfte, der im Feuer schmolz und das Monster erstickte.

 

Chimären (Seeratten, Seekatzen)


Familien: Pflugnasen-Chimären (Callorhinchidae), Kurznasen-Chimären (Chimaeridae), Langnasen-Chimären (Rhinochimaeridae)
Gattungen: 5
Arten: etwa 50
Größe: 40 bis 150 cm
Englisch: Ghost shark
Aussehen: skurrile Mischung aus Hai und Rochen
Lebensraum: Bodenbewohner der Kontinentalabhänge, meist deutlich tiefer als 50 Meter
Verbreitung: meist in tiefen und kühlen Meeren
Verwechslungsmöglichkeit: Grenadierfische und Tiefseequappen (Hut ab vor jedem, der diese Fische kennt!)
Aufgrund des großen Erfolges der antiken Story wurde die Bezeichnung dann für alle Mischwesen verwendet, auch wenn marine Chimären an der Küste Griechenlands und der Türkei ebenso wie im gesamten Mittelmeer extrem selten sind. Vielleicht ist die ganze Geschichte auch nur von ein paar antiken Trunkenbolden irgendwo zwischen Balkan und Levante erfunden worden.

Kein Speisefisch!

Chimären fressen Meeresgetier mit mehr oder weniger harter Schale, daher haben sie nicht die typischen spitzen Haizähne sondern stattdessen zusammengewachsene Zahnplatten. Zwei Paar dieser Hasenzähne sitzen im Oberkiefer und eines im Unterkiefer. So erinnern sie mehr an eine Ratte als an einen Hasen und deshalb nennt man Chimären volkstümlich auch Seeratten und nicht Seehasen.

Aber nicht nur hartschalige Wirbellose werden von den Chimären gefressen. Auch Krabben, Garnelen, Fangschreckenkrebse und kleine Fische stehen auf dem Speiseplan. Chimären selbst werden von größeren Meeresräubern gejagt. Doch der größte Räuber stellt ihnen nicht nach: Für uns Menschen ist ihr Geschmack unangenehm, da sie wie alle Haie den Harnstoff über ihre Nieren nur unvollständig ausscheiden. Diese organische Stickstoffverbindung ist bei Chimären im ganzen Körper besonders reichlich vorhanden und zersetzt sich nach dem Tod rasch zu Ammoniak, was dazu führt, dass das Fleisch so riecht wie ein Pissoir auf einem Zeltfest im Hochsommer. Der Geschmack dürfte zum Geruch passen, darum haben sie an den Fischmärkten oftmals Hausverbot und werden somit nicht oder sehr wenig - direkt bejagt. Ihr Glück!


 

Das Liebesleben...

...der Chimären ist recht unbekannt, da es für gewöhnlich tief unten - in den finsteren Tiefen der Kontinentalabhänge - stattfindet. Man darf aber durchaus annehmen, dass es ähnlich wie bei anderen kleinen Haien abläuft. Die Männchen sind wie üblich an den außenliegenden Geschlechtsorganen leicht zu erkennen. Diese nennt man Klasper, sie liegen bei den Bauchflossen und sind doppelt vorhanden. Bei den Weibchen, die größer werden als die Männchen, fehlen diese logischerweise. Ergo: Hai ohne Klasper ist immer ein Weibchen. Der Paarung könnte ein mehr oder weniger heftiges Vorspiel vorangehen, das über die "Liebesbisse" anderer Haiarten hinausgehen könnte. Das Männchen hat an einer Stirn ein Reizorgan, mit dem er das Weibchen vor oder während der Paarung stimulieren soll. Wie das nun genau funktionieren soll, lässt sich selbst der Fachliteratur nicht entnehmen und folglich auch nicht "vermenschlichen" oder nachmachen. Nach erfolgreichem Seerattensex ziehen die Weibchen jedenfalls in flachere Küstenbereiche um ihre Eier abzustreifen. Diese sind spindel- bis flaschenförmig, abgeflacht und bis 20 cm lang. Sie werden einzeln oder paarweise abgestreift und erst nach acht bis zwölf Monaten schlüpfen aus ihnen die kleinen Chimären, die ihren Eltern schon recht ähnlich sehen.


 

Tauchen mit Chimären


Der gewöhnliche Lebensraum dieser außergewöhnlichen Fische ist, wie schon erwähnt, ein Tiefenbereich, welcher deutlich jenseits der Wohlfühltiefe jedes Sporttauchers ohne suizide Tendenzen liegt. Glücklicherweise gibt es Hot Spots, an denen die Chimären nachts aus bisher ungeklärten Gründen aufsteigen und sich in Wassertiefen von zehn bis dreißig Metern beobachten lassen. Sie kommen zum Fressen nach oben. Etwas haiuntypisch, denn es sind kleine Miesmuscheln und andere wirbellose Kleinlebewesen, auf die sie es abgesehen haben.

Das Licht der Tauchlampen irritiert diese Fische, die perfekt an ein Leben in der Dunkelheit angepasst sind. Aber ganz ohne geht es nicht und so tauchen wir normalerweise von verschiedenen Landeinstiegen am Trondheimfjord mit möglichst wenig Licht. Die Augen der Chimären sind extrem lichtempfindlich und leuchten grün, wie Katzenaugen. So lassen sie sich recht leicht finden. Die richtige Platzwahl und das Timing sind entscheidend, denn an vielen Spots muss vorher die Gezeitentabelle studiert werden! Der norwegische Trondheimfjord lässt sich in weiten Bereichen nur bei "Slack Water", also bei Gezeitenwechsel, sicher betauchen.

Aber zurück zu der Begegnung mit diesen wahrlich skurrilen Kreaturen unter Wasser. Erst einmal entdeckt, sind Chimären nicht scheu, vielmehr wirken sie neugierig. Nicht selten kommen sie direkt auf Taucher und besonders auf Fotografen zu.

Wir vermuten, dass ihre empfindlichen Sinnesorgane, die Lorenzinischen Ampullen, welche sie, wie jeder Hai der etwas auf sich hält, unter der Nase tragen, ihnen einige spannende Daten über das Fotoequipment liefern. Wie genau die Fische ihre Umwelt wahrnehmen ist für uns schwer zu verstehen. Sicher ist nur, dass die Augen eine untergeordnete Rolle spielen. Mit etwas Glück trifft man auf mehr als zehn Chimären bei einem Tauchgang von nicht mehr als 40 Minuten Länge.

Chimären benutzen fast ausschließlich die großen Brustflossen zur Fortbewegung und gleiten beinahe wie Rochen dahin. Sie begleiten den Taucher eine Weile, schlagen mitunter schnelle Haken, segeln jedoch die meiste Zeit ruhig durch das schwarze Wasser entlang an Steilwänden und Abhängen. Aber irgendwann senken sie die Nase und lassen sich in die Tiefe fallen. Zurück in eine Welt die uns heute noch weit mehr Fragen und Rätsel aufgibt und weniger erforscht ist als das Weltall.


 

Zusammenfassung


Chimären sind geheimnisvolle Fische der Tiefsee, die man beim Tauchen nur extrem selten zu sehen bekommt. Die Knorpelfische sind mit Haien und Rochen verwandt. Wie der Name verrät, besteht ihr Skelett aus Knorpeln und nicht aus festen Gräten. Neugierig geworden? Seit kurzem gibt es in Norwegen die Möglichkeit mit ihnen zu tauchen! Weitere Infos: Northern Explorers

Video zum Thema:

 


Das Video zeigt Chimären bei einem Nachttauchgang im Trondheimfjord.